Köln 07.–10.11.2024 #artcologne2024

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„Was ist das Peinlichste?“

Die Künstlergruppe Mülheimer Freiheit erlebte Anfang der 1980er Jahre einen kurzen, rauschhaften Aufstieg, heute ist sie nahezu vergessen. Die Galerie Michael Haas möchte das ändern.

Das Gemälde „Kopf aus der Platte“ von Walter Dahn

Ein Werk aus dem Gründungsjahr der Mülheimer Freiheit: Walter Dahn, „Kopf aus der Platte...Bewegt!/nicht bewegkopf!“ von 1981. Copyright: Galerie Michael Haas

Auf der Kölner Domplatte hat alles begonnen. Hier begegneten sich Ende der 1970er-Jahre Walter Dahn und Jiří Georg Dokoupil. Die Künstler, beide Mitte zwanzig, kamen bei einer Performance ins Gespräch und freundeten sich an. Dokoupil, der 1968 mit seiner Familie aus der Tschechoslowakei nach Deutschland gekommen war, hatte zunächst an der Kölner Werkschule und dann ein Jahr in New York studiert. Zurück in Köln wollte er „alles ändern“ und fand in Dahn, der schon mit 17 Jahren bei Joseph Beuys in Düsseldorf studiert hatte, einen kongenialen Partner. Sie diskutierten abends in der Kneipe über neue Ideen, drehten kleine Filme und schufen von den Fanzines der Punkmusikszene inspirierte Collagen.

Gemeinsam mit zwei Freunden, dem Autodidakten Peter Bömmels und dem Maler Hans Peter Adamski, realisierten sie 1980 ihre erste Ausstellung in der Kölner Hahnentorburg unter dem Titel „Auch wenn das Perlhuhn leise weint“. Sämtliche Räume einschließlich des Treppenhauses wurden dabei zum künstlerischen Experimentierfeld: Bömmels zeigte Installationen aus Knetgummifiguren, Adamski riesige Papierrisse, Dahn und Dokoupil überzogen die Wände mit im Eiltempo geschaffener Malerei. Auf dem Fußboden wurden Zeichnungen verstreut, auf denen die Zuschauer herumtrampelten. „Wir haben überlegt: Was ist peinlich? Was ist das Peinlichste? Und das haben wir dann gemacht“, erinnert sich Bömmels Jahre später.

Für den renommierten Kölner Galeristen Paul Maenz, der damals vor allem Konzeptkünstler wie Hanne Darboven und Hans Haacke vertrat, war diese Ausstellung „ein Paukenschlag, wie ich ihn selten erlebt habe.“ Sofort fragte er die jungen Künstler, ob sie bei ihm ausstellen würden: „Sie zierten sich erst – die Galerie sei ihnen zu etabliert. Aber sie waren natürlich nicht naiv und erkannten ihre Chance.“

Das Bild „Ohne Titel“ von Gerhard Naschberger

Gerhard Naschberger zog sich in den 1990ern aus der Kunstszene zurück – oben sein Acrylbild „Ohne Titel“ von 1985. Copyright: Galerie Michael Haas

Hunger nach Bildern

Die Resonanz auf die Schau „Mülheimer Freiheit & Interessante Bilder aus Deutschland“ im November 1980 in der Galerie Paul Maenz war dann enorm. Diese neue rotzige Malerei, das vermeintlich Dilettantische, in kürzester Zeit an die Wand oder auf die Leinwand Geworfene, eine figurative Kunst voller seltsamer Fahnenträger, bizarrer Verrenkungen und im Strahl kotzender Köpfe traf einen Nerv. Der programmatisch wirkende Titel „Mülheimer Freiheit“ war dabei schlicht der Name der Straße, in der die Künstler ihr gemeinsames Atelier in einer Fabriketage hatten.

Der geschickten Vermarktung durch Paul Maenz ist es zu verdanken, dass aus dieser Ateliergemeinschaft nun eine Künstlergruppe wurde, die bald medial herumgereicht und zu Ausstellungen eingeladen wurde. Zugleich war die ehemalige Fabrik in Köln-Mülheim tatsächlich ein Ort intensiver künstlerischer Gruppenarbeit – bis hin zur Aufhebung individueller Grenzen. „Es gab ein offenes System in der Halle. Man konnte hingehen und in der Arbeit des anderen etwas ändern. Das war manchmal eine brutale Angelegenheit, aber das Ganze hatte was von einem antiautoritären Kinderladen“, erinnert sich Jiří Georg Dokoupil, der mit Walter Dahn die künstlerische Keimzelle der Gruppe bildete. Die beiden erhoben das Verschwinden des Künstlersubjekts zum Programm – ganz im Geist der heraufziehenden Postmoderne. Und sie setzten von Anfang an auf Malerei, in Abgrenzung zur gefragten Konzeptkunst und zum Übervater Beuys. Die Mülheimer Freiheit war dabei Teil einer Kunstbewegung in den späten 1970er- und frühen 1980er Jahren, die bald als „Neue Wilde“ zusammengefasst wurde und ihre Zentren in Berlin, Hamburg und Köln hatten. Anders als bei den von der existenziellen Härte und schwulen Subkultur der Frontstadt geprägten Berlinern regierte in Köln vor allem der Spaß an einer überbordenden Produktivität, die mit einem gerüttelt Maß an Unernst alle künstlerischen Grenzen überschritt.

Der rauschhafte Aufstieg der Gruppe hatte seinen Höhepunkt im Jahr 1982. Zur besten Sendezeit trat sie bei Alfred Biolek und „Bio’s Bahnhof“ auf, in der Ausstellung „10 junge Künstler aus Deutschland“ im Museum Folkwang war die gesamte Gruppe vertreten, so wie kurz danach in Wolfsburg, Basel, Bologna, Rotterdam und Berlin. Paul Maenz hatte drei von ihnen, Walter Dahn, Jiří Georg Dokoupil und Peter Bömmels, unter Vertrag genommen und vermittelte sie weiter an die Topadressen der New Yorker Galerienszene, an Leo Castelli, Ileana Sonnabend und Marian Goodman. Dahn und Dokoupil nahmen 1982 an der Documenta 7 teil, Dokoupil war auf der Biennale in Venedig vertreten.

Das Bild „Peace“ von Gerard Kever

Gerard Kever wandte sich später den Lehren Bhagwans zu – oben seine Arbeit „Peace“ aus dem Jahr 1981. Copyright: Galerie Michael Haas

Energie des Aufbruchs

Doch mit dem Erfolg kamen bald erste Auflösungserscheinungen. Walter Dahn zog aus dem Atelier in Mülheim aus, um sich in Ruhe auf die Documenta vorzubereiten. Nur wenige Jahre später verabschiedete er sich ganz von der Malerei und widmete sich der Fotokunst. Jiří Georg Dokoupil bezog schon bald ein zweites Studio in New York und wurde immer mehr zum Weltbürger. Gerard Kever wandte sich den Lehren Bhagwans zu. Gerhard Naschberger, der 2014 bei einem Autounfall ums Leben kam, zog sich in den 1990er-Jahren komplett aus der Kunstszene zurück. Peter Bömmels, Autodidakt und studierter Soziologe, entwickelte neben seiner Arbeit als Herausgeber des Popkultur-Magazins Spex sein künstlerisches Œuvre kontinuierlich weiter, ebenso wie Hans Peter Adamski.

Über den kunsthistorischen Bestand der Mülheimer Freiheit scheint sich die Nachwelt noch nicht einig. Den – vor allem posthumen – Ruhm eines Martin Kippenberger hat bislang keiner der sechs erfahren. Die Gruppe taucht im Ausstellungsbetrieb meist nur als Teil der „Neuen Wilden“ auf, was den Galeristen Michael Haas empört. Haas, der 1976 in Berlin seine Galerie eröffnete, hatte in den 1980er Jahren bereits bei Paul Maenz Arbeiten der Künstler erworben. „Die Leute hatten damals genug von Minimal Art und Konzeptkunst“, erinnert er sich. „Sie hatten einen regelrechten Hunger nach Bildern. Und diese Aufbruchsstimmung in der Malerei, die hat die Mülheimer Freiheit verkörpert.“ An den Arbeiten schätzt er besonders ihren originären, eigenwilligen Zugang zur Kunst: „Anders als die jungen Wilden aus Berlin waren sie weniger neo-expressiv, sondern entwickelten eine ganz eigene Bildsprache. Die war provozierend, vielfältig, rotzfrech und vielleicht am ehesten noch von DADA geprägt.“

Zur ART COLOGNE wird Michael Haas Arbeiten von allen Künstlern der Gruppe mitbringen, auch wenn sie nicht immer im eng begrenzten Zeitraum des Bestehens der Mülheimer Freiheit entstanden sind. Die Energie des Aufbruchs tragen sie immer noch in sich: „Die Bilder der Mülheimer Freiheit werden nie langweilig. Sie sind heute noch genauso faszinierend wie vor 40 Jahren.“, resümiert der Galerist. Umso erstaunlicher findet er es, wie wenig die Gruppe bislang gewürdigt wird. „Manchmal hat man den Eindruck, das Ausland interessiert sich heute mehr für die deutsche Kunst der 1980er Jahre als die Kölner Museen – die Stadt, in der die Bewegung entstanden ist.“

Autorin: Simone Sondermann